"Intervallfasten"

von Pepe Peschel

Experteninterview mit Dr. Claudia Thiel


Sie haben in mehr als 25 Jahren schon Hunderte Abnehmwillige begleitet. Was ist beim Intervallfasten anders als bei allen anderen Ernährungsformen und Diäten?
Dr. Thiel:
Übliche Diäten scheitern oft an der konsequenten Umsetzung im Alltag. Das liegt daran, dass insbesondere einseitige Formen wie etwa eine Kohlsuppen- oder Ananasdiät darauf abzielen, die Ernährung qualitativ zu verändern. Beim Intervallfasten geht es um eine zeitliche Einordnung, die dem Körper die Möglichkeit gibt, seine Zellen aufzuräumen. Genau das ist meiner Meinung nach das Allerwichtigste. Und es lässt sich auch langfristig umsetzen, weil wir zwar für eine gewisse Zeit Verzicht üben, uns aber nicht qualitativ einschränken.

… aber mengenmäßig insgesamt weniger essen. 
Dr. Thiel: Richtig, aber eben dauerhaft. Die meisten Menschen machen kurzfristig irgendeine Diät. Damit haben sie auch für den Moment Erfolg. Aber dann denken sie: Nach der Diät kann ich wieder genauso essen wie bisher. Und „normal“ essen ist in unserer von Industriekost geprägten Gesellschaft nun mal einfach ungesund. Viele stopfen wahllos ständig etwas in sich hinein. Wer langfristig abnehmen beziehungsweise sein Gewicht halten will, sollte auch langfristig etwas verändern. Mit Intervallfasten geht das sehr gut.

Auch als lebenslange Ernährungsform?
Dr. Thiel:
Ja, in jedem Fall. Schauen Sie sich einmal an, wie sich Menschen ernähren, die sehr hohe Lebensjahre erreichen. Viele verzichten über lange Phasen am Tag auf Nahrung. Und wenn sie essen, wählen sie ihre Nährstoffe bewusst aus. Am besten in Form natürlicher Lebensmittel. Um dieses Bewusstsein geht es. Alle wollen immer nur abnehmen. Ganz schnell natürlich und wenn es sein muss, um jeden Preis. Dem Organismus ist das nicht wirklich zuträglich. Vor allem, wenn man als Berufstätiger jeden Tag Leistung bringen muss.

Hektik kennt ja eigentlich jeder in unserer Gesellschaft. Lässt sich mit Intervallfasten auch das individuelle Stresserleben verändern? 
Dr. Thiel: 
Sehr gut sogar. Wichtig ist, in den Essenszeiten darauf zu achten, ausreichend mit Vitalstoffen, Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen versorgt zu sein. Dann kann man bereits innerhalb der ersten ein bis zwei Wochen in vielerlei Hinsicht profitieren. Unsere Patienten berichten von einem deutlich besseren Schlaf. Sie fühlen sich insgesamt fitter und wacher. Viele können ihr Alltagspensum wieder meistern und mit Stresssituationen besser umgehen. Auch Muskel- und Gelenkbeschwerden verbessern sich oft. Zusammengefasst: Mit Intervallfasten nutzen Sie Ihre Kapazitäten optimal aus.

Und mit welchem Fastenintervall lässt sich das am besten erreichen? 
Dr. Thiel: Wir empfehlen im Ernährungszentrum ein Fastenzeitfenster von mindestens 12 Stunden. Wer gut damit zurechtkommt, kann auch 14, 16 Stunden und länger fasten. Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass Essenspausen gerade für das Gehirn viele Vorteile bieten. Schon nach relativ kurzer Zeit des Fastens sind wir oft konzentrierter und können klarer denken. Wir bekommen wieder einen ganz fokussierten Blick auf die Dinge – und das kann den individuellen Stresslevel enorm reduzieren. Das Abnehmen passiert da im Grunde ganz nebenbei.

Welche Prozesse laufen in diesen 12 oder mehr Stunden im Körper ab?
Dr. Thiel: Wenn wir keinen Essensnachschub bekommen, dann verwendet der Körper buchstäblich alles, was rumliegt. Zuerst werden die Zuckerspeicher entleert. Danach kommt die Fettverbrennung dran. Wenn Sie 12, 14 oder mehr Stunden Karenz einhalten, sinken auch der Kortisol- und der Insulinspiegel. Der gesamte Stoffwechsel verändert sich und kann deswegen seine Zellen endlich aufräumen. Es ist offensichtlich so, dass der Körper sich in Fastenphasen sagt: Okay, ich kriege nicht viel von außen. Dann schaue ich doch einmal, was sich an Vorhandenem noch gebrauchen lässt. Er recycelt sozusagen alte Zellbestandteile und zerlegt sie in kleinste Bausteine, um diese dann wiederzuverwerten. Wird er aber pausenlos gefüttert, hat er überhaupt keine Zeit, sich um den ganzen Abfall zu kümmern.

Können wir auch schon mit einem Verzicht auf Zwischenmahlzeiten und Naschereien positiv auf den Stoffwechsel einwirken?
Dr. Thiel: Die Snacks wegzulassen, kann ein guter erster Schritt sein. Wenn ich drei Mahlzeiten am Tag zu mir nehme und dazwischen wirklich Pausen mache, wirkt sich das auf jeden Fall positiv aus. Vor allem, weil sich die Bauchspeicheldrüse – die ja ein Leben lang Insulin produzieren soll – erholen kann. Auf Zwischenmahlzeiten zu verzichten, fällt natürlich den meisten Menschen auch erst einmal am leichtesten. 

Interessanterweise wurde noch in den 1980er- und 1990er-Jahren empfohlen, möglichst viele kleine Mahlzeiten über den Tag zu verteilen …
Dr. Thiel: … mit dem Ergebnis, dass der Mensch immer müder und damit auch dicker wurde. Man wollte so einen möglichst konstanten Zuckerspiegel erreichen. Das schafft man auf diese Weise zwar, aber: Mit permanent hohem Insulinspiegel werden Sie träge. Der Stoffwechsel verliert die Flexibilität, von Zuckerverbrennung auf Fettabbau umzuschalten. 

Könnten diese guten alten Gewohnheiten der Grund sein, warum wir uns beim Thema Ernährung oft selbst im Weg stehen?
Dr. Thiel: Auf jeden Fall ist das so. Das, was wir uns über Jahrzehnte angewöhnt haben, sitzt in unserem Kopf wie ein Autopilot. Und wir sind davon überzeugt, dass es nur so sein darf und nicht anders.

… weswegen es durchaus herausfordernd sein kann, sich langfristig an 12, 14 und mehr Stunden ohne Essen zu gewöhnen?
Dr. Thiel: Durchaus. Meines Erachtens ist das Arbeiten an alten Programmen und unerwünschten Verhaltensweisen mindestens so wichtig wie eine gute Ernährung oder ein gutes Intervallfasten. Eher sogar noch wichtiger.

Mit welcher Form des Intervallfastens kommen denn die meisten am besten zurecht?
Dr. Thiel: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt Menschen, denen es sehr leichtfällt, 12, 14 Stunden und länger Verzicht zu üben. Das sind in der Regel diejenigen, die ungern frühstücken und häufig sogar froh sind, wenn ihnen jemand sagt: „Du musst morgens nichts essen.“ Viele haben es als inneres Pflichtprogramm abgespeichert und von Kindesbeinen an gelernt, dass man ohne gutes Frühstück niemals das Haus verlassen sollte. Ein weiteres Phänomen alter Gewohnheiten.

Beispiel: Ich bin zu einem 14:10, also 14 Stunden fasten, 10 Stunden essen, entschlossen. Ich möchte dafür das Frühstück auslassen, schaffe es aber beim besten Willen nicht. Wie kann ich das denn ändern?
Dr. Thiel: Erst einmal sollten Sie überprüfen, ob Sie eine unerwünschte, eingefahrene Überzeugung haben. Wenn das so ist, dann schreiben Sie sie auf. Beispiel: Ich muss unbedingt frühstücken, bevor ich in den Tag starte. Dann ersetzen Sie diese Überzeugung durch das neue erwünschte Verhalten, zum Beispiel: Es reicht mir, wenn ich morgens meinen Kaffee und einen halben Liter Wasser trinken kann. Mein Frühstück nehme ich dann zwischen 10 und 11 Uhr in Ruhe zu mir. Auch die neue Überzeugung sollte aufgeschrieben und jeden Tag mehrfach wiederholt werden – wie ein Mantra. Bis sie sich automatisiert, können im Schnitt 6 bis 12 Wochen vergehen. Und man muss wissen, dass ein Rückfall in die alten Verhaltensmuster auch später noch möglich ist, etwa ausgelöst durch sehr hohe Stressspitzen oder einschneidende Lebensereignisse. Daher sollte man neue, erwünschte Verhaltensweisen immer und immer wieder einüben.

Nun verbindet sich mit dem Wunsch nach neuen Gewohnheiten nicht selten auch jener nach der Superschlank- Silhouette, wie sie uns in Werbung, klassischen und sozialen Medien rund um die Uhr präsentiert wird. Abgesehen davon, dass das jeder Realität entbehrt und noch mehr Stress bedeutet: Wie viel schlank ist eigentlich gesund?
Dr. Thiel: Schlank heißt immer auch, dass ich eine gesunde, ausgebildete Muskulatur haben sollte. Einfach nur dünn zu sein und ein geringes Gewicht auf die Waage zu bringen, ist es also nicht. Auch benötigen vor allem Frauen eine gewisse Menge an Unterhautfett. Frauen, die sehr dünn sind, werden oft nicht schwanger. Ein Schutzmechanismus der Natur, die sich sagt: Diese Frau hat viel zu wenig Fett, um sich und ihr Kind zu ernähren. Aber es ist heute in unserer Gesellschaft tatsächlich sehr, sehr schwierig. Viele haben völlig überzogene Vorstellungen, zum Beispiel, dass man mit über 50 noch aussehen muss wie mit 18. Äußerlichkeiten nachzurennen, ist tatsächlich ein Problem.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, damit wir uns stattdessen des hohen Wertes unserer Gesundheit bewusst werden?
Dr. Thiel: Ich glaube, es hat wirklich etwas mit Werten zu tun. Der Einzelne tut sich oft unglaublich schwer damit, das, was durch Medien und Internet vorgelebt wird, zu reflektieren. Und für sich herauszufinden, ob es auch dem entspricht, was man für sein eigenes Leben als wichtig und wertvoll definieren möchte. Leider ist es immer noch so, dass die meisten Menschen erst anfangen darüber nachzudenken, wenn sie krank sind. Wenn ich mir alleine anschaue, wie viele Menschen übergewichtig sind, darunter immer mehr Kinder und Jugend liche. Dennoch muss man sagen: Viele Menschen spüren, dass der Weg, der die vergan genen Jahrzehnte eingeschlagen wurde, eigent lich immer weiter in die Katastrophe geführt hat. Was uns gerade im Bereich der Ernährung noch fehlt, ist die Verbindlichkeit. Allen voran in Kitas und Schulen. Unsere Gesellschaft setzt zu sehr auf Eigenverantwortlichkeit. Die ist natürlich wichtig. Aber das alleine reicht meines Erachtens nicht. Bei großem Stress fällt gesundes Essen in der Regel einfach immer hinten runter. Weil es anstrengend ist und Energie kostet, sich nachhaltig um eine gute Ernährung zu kümmern.

Vielleicht brauchen wir eine stärkere Motivation. Wie wäre es mit einem Anti- Aging-Intervall? Immerhin ist der Traum von der ewigen Jugend der wohl am längsten gehegte Menschheitstraum.
Dr. Thiel: (lacht) Auf die Essens- und Fastenphasen bezogen lässt sich das nicht beantworten. Aber grundsätzlich hat Intervallfasten tatsächlich eine sehr gute Anti-Aging-Wirkung. Das hängt auch mit den Endkappen der Chromosomen zusammen, den Telomeren. Diese verkürzen sich bei jeder Zellteilung. Sind sie aufgebraucht, kann sich die Zelle nicht mehr teilen. Das ist der normale Alterungsprozess. Es gibt aber die Möglichkeit, diese Telomere zumindest teilweise wieder aufzubauen. Und dazu gehört auch, dass wir eher wenig essen beziehungsweise Fastenphasen einhalten.

 

Frau Dr. Thiel, vielen Dank für das Gespräch.

 

(Das Interview führte Pepe Peschel. Es wurde redaktionell bearbeitet und gekürzt.)

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